Vor Mayor Pete wird gewarnt – Seite 1

Als Pete Buttigieg an einem Dienstagabend Anfang Mai Corby's Irish Pub in South Bend betritt, wird es erst leise – ist er es wirklich? – und dann richtig laut: "Pete! Pete! Pete!" In strahlend weißem Hemd drückt sich der Bürgermeister durch die Menge und wer Glück hat, bekommt seine Hand oder ein Zwinkern ab.

"Es ist mir eine große Freude, dass ich heute nicht das Hauptereignis bin", sagt Buttigieg, mittlerweile mit Mikrofon ausgestattet, obwohl er natürlich weiß, dass das Quatsch ist. Alle im Raum wissen das. Wo er ist, sind die anderen Nebendarsteller. In diesem Fall James Mueller, der die Vorwahlen zum Bürgermeisteramt gewonnen hat und ziemlich sicher im Januar Buttigiegs Nachfolger wird. Die zwei befreundeten Parteikollegen umarmen sich, rund 100 Anhänger heben ihr Bier. Und nach ein paar Interviews handshakt sich Buttigieg auch schon wieder zum Ausgang. Seine Heimatstadt South Bend, die er seit mehr als sieben Jahren regiert, ist für ihn in diesen Tagen nur noch ein Zwischenstopp.

Wie aus dem Nichts gehört der 37-jährige Lokalpolitiker, den bis vor ein paar Monaten höchstens Spezialisten kannten, plötzlich zu den aussichtsreicheren Bewerbern für die Präsidentschaftskandidatur der US-Demokraten. Je nach Umfrage steht Buttigieg zwischen Platz drei und sechs, einzig Joe Biden und Bernie Sanders spielen noch in einer anderen Liga. Was den Hype angeht, ist er schon ganz oben. Mit Ehemann Chasten blickt er von der Titelseite des Time-Magazins, die Vogue setzt ihn schwarz-weiß in Szene. Er darf mit Jimmy Fallon in dessen Tonight Show jammen und mit den Talkmastern Trevor Noah, Seth Myers und Ellen DeGeneres plaudern. Buttigieg ist überall dort, wo er eingeladen wird. Und eingeladen wird er fast überall.

Harvard, Oxford, Afghanistan

Mal ist er der "neue Obama", mal der "amerikanische Macron". Das Prozedere ist fast bei jedem Auftritt das gleiche. Erst wird die Aussprache seines Namens erläutert: "Boot – edge – edge". Dann sein Alter: ein Millennial! Anschließend ein Blick auf sein Leben. Abschluss in Harvard. Rhodes-Stipendium in Oxford. Drei Jahre bei McKinsey. Sechs Monate als Soldat in Afghanistan. Sieben Sprachen mächtig. Mit 29 jüngster je gewählter Bürgermeister einer US-Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern.

South Bend ist einer dieser Orte, an denen die Proportionen nicht zu stimmen scheinen. Im Zentrum ist alles viel zu groß, die Parkhäuser, die Vorräume der Bankfilialen, das McDonald's-Zeichen. Und in den Außenbezirken ist alles so weitläufig, dass sich Fußgänger direkt verdächtig machen. Die Stadt liegt im Norden Indianas und gehört damit zum Rust Belt, jener Region also, die nach der Wahl 2016 plötzlich im Mittelpunkt politischer Analysen stand. Donald Trump gelang es, die von Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und Einwohnerschwund geprägten Bundesstaaten zu gewinnen, indem er der überwiegend weißen Bevölkerung sowohl Sündenböcke lieferte (die Mexikaner, die Elite, die Medien) als auch einen neuen Aufschwung verprach: "Make America great again." Wer auch immer für die Demokraten im kommenden Jahr gegen Trump antritt: Er wird diese Wähler brauchen.

Ein Modell für Amerikas Zukunft?

Buttigieg hat zumindest den Vorteil, dass er den Rust Belt seine Heimat nennen kann. Und in den großen Porträts und Primetimesendungen werden seine Bürgermeisterjahre meist als Erfolgsstory präsentiert. Er habe South Bend revitalisiert, heißt es, Investoren mit kluger Steuerpolitik hergelockt, die Wirtschaft zum Wachsen gebracht. Das Stadtzentrum sei nun aufgeräumter, schöner, lebendiger. Der Untertitel seiner Autobiografie lautet: Die Herausforderung eines Bürgermeisters und ein Modell für Amerikas Zukunft. Doch nicht alle teilen diese Sicht.

Während Buttigiegs Anhänger im Pub ohne ihn weiterfeiern, ist die Stimmung auf der anderen Seite des St. Joseph River, im Linden Grill, an diesem Abend trüber. Von der Wahlparty, die nie wirklich eine Party war, sind vielleicht noch 20 Leute übrig. Unter ihnen einige Studierende, ein paar Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Aktivisten, ein pensionierter Wirtschaftsprofessor und ein Modedesigner. Sie hatten gehofft, dass die linksprogressive Kandidatin Regina Williams-Preston einen Überraschungserfolg gegen Buttigiegs Freund Mueller landet. Daraus wurde nichts. Jetzt kauen sie auf Chickenwings herum und rätseln, wie es weitergeht. Dass South Bend ein Modell für Amerikas Zukunft sein kann, glauben sie hier jedenfalls nicht. Sie sind auch nicht stolz auf Mayor Pete, den berühmten Sohn der Stadt. Im Gegenteil: Sie warnen davor, dass Buttigieg Präsident wird.

Neuanfang für eine sterbende Stadt

Ging aus Wut über Pete Buttigieg in die Politik: Regina Williams-Preston © Lukas Hermsmeier

Am Morgen nieselt es, Williams-Preston bittet zu einer Stadttour mit ihrem alten Lexus-Familienauto. Eine wirkliche Chance, Bürgermeisterin von South Bend zu werden, hatte die 48-jährige Lehrerin nicht, dafür fehlte das Geld für eine große Kampagne. Ihr sei es auch vor allem darum gegangen, ein Zeichen gegen Buttigiegs Politik zu setzen. Die afroamerikanische Frau mit den braun-blonden Löckchen fährt die North Olive Street entlang, dort ist sie aufgewachsen. Sie zeigt auf Grasflächen, wo früher Häuser standen, und auf Baustellen, wo eben noch Gras wuchs. Bürgermeister Pete habe Spuren hinterlassen, sagt Williams-Preston.

Als Buttigieg das Amt 2011 übernahm, galt South Bend als eine sterbende Stadt. 1963 hatte der Autohersteller Studebaker – ein Jahrhundert lang größter Arbeitgeber in South Bend – sein Hauptwerk schließen müssen. In den folgenden Jahrzehnten sank die Einwohnerzahl von 130.000 auf rund 100.000. Zurück blieben verwaiste Häuser und unbewohnte Straßenzüge, die Kriminalität stieg, immer mehr Betriebe machten dicht.

Buttigieg versprach einen Neuanfang. Innerhalb von 1.000 Tagen sollten 1.000 verlassene Häuser entweder instand gesetzt oder abgerissen werden. Die Eigentümer wurden vor die Wahl gestellt: Eigenständig reparieren war die eine Möglichkeit, der Stadt das Grundstück zu schenken die andere. Betroffen waren vor allem afroamerikanische Familien, die ein Haus geerbt oder billig gekauft, aber für Reparaturen kein Geld hatten.

"Erlebt, wie die Leute hier entrechtet werden"

Es sei dieses Vorzeigeprojekt gewesen, das sie zur Politikerin werden ließ, sagt Williams-Preston, die seit 2015 im Stadtrat sitzt. Nicht etwa, weil sie sich von Buttigieg inspiriert fühlte. Sondern weil sie zu den vielen Opfern der Initiative gehört. "Ich habe mich die längste Zeit meines Lebens nicht für Politik interessiert. Dann habe ich erlebt, wie die Leute hier entrechtet werden", sagt sie. "Das hat mich aufgeweckt."

Williams-Preston und ihr Mann hatten ein paar leer stehende Häuser im Nordwesten der Stadt erworben. Sanieren, vermieten, so eine Altersvorsorge aufbauen, das war der Plan. Es kam anders. Kurz nach dem Kauf wurde ihr Mann plötzlich krank. "Er lag mehrere Wochen im Koma und war danach lange arbeitsunfähig", sagt Williams-Preston. Für die Renovierungen fehlte nun das Geld. Weil der neue Bürgermeister zur gleichen Zeit die Kraft seiner Initiative beweisen wollte, verteilte die Stadt drakonische Bußgelder. 72.000 Dollar sammelten sich bei dem Ehepaar. Sie konnten vor Gericht zwar eine Minderung der Schulden erwirken. Dafür verloren sie die meisten ihrer Häuser.

Je mehr Menschen man in South Bend spricht, desto mehr solcher Geschichten hört man. Von Obdachlosencamps, die Buttigiegs Polizei rigoros räumen ließ. Von einer geplanten Regionalbahnstrecke, die eines der ärmsten Viertel durchschneiden würde. Und dann wäre noch die Geschichte vom ersten afroamerikanischen Polizeichef von South Bend, der sich über seine rassistischen Kollegen beschwerte und von Buttigieg degradiert wurde. Nachlesen lässt sich das alles auch in der Lokalzeitung South Bend Tribune. Der junge, smarte, sanfte Präsidentschaftskandidat, der unentwegt von Freiheit, Demokratie und Solidarität spricht, scheint wenig mit dem rücksichtslos aufräumenden Bürgermeister zu tun zu haben. Es ist derselbe Mann.

"Auf dem Papier perfekt, aber …"

Beim Karaokeabend in der Madison Oyster Bar in Downtown South Bend ist Sarah die einzige schwarze Person im Raum. Die 21-jährige Filmstudentin sitzt am Tresen und trinkt Wasser. Als sie über Buttigieg spricht, geht sie mit der Stimme herunter. Ihre Mutter lebe als Einwanderin ohne Papiere in der Stadt, sagt sie, deshalb sei sie lieber etwas vorsichtiger (weshalb wir auch ihren Namen geändert haben). "Buttigieg ist charismatisch, klug, wortgewandt und auf dem Papier perfekt. Aber am Ende beschützt er nur die Rechte der WASPs", sagt Sarah. Gemeint sind White Anglo-Saxon Protestants, die weiße Mittel- und Oberschicht des Landes.

Jorden Giger macht der Hype um Buttigieg wütend: "Nur weil einer jung ist, bedeutet es nicht, dass er progressive Politik macht." © Lukas Hermsmeier

Ähnlich sieht das Jorden Giger, 28, der in South Bend geboren wurde. Als Community Organizer engagiert er sich für das Gemeinwesen seiner Stadt. Über den Bürgermeister sagt Giger: "Er hat sich nie die Mühe gemacht, seine Klasse zu verlassen. Er hat keine Verbindung zu armen Menschen und People of Color." Die glorifizierende Berichterstattung über Buttigieg mache ihn wütend, sagt Giger. "Was viele Medien nicht kapieren wollen: Nur weil einer jung ist, bedeutet es nicht, dass er progressive Politik macht."

Buttigieg räumt selbst ein, er habe Fehler gemacht. Die Initiative "1.000 Häuser in 1.000 Tagen" sei schlecht kommuniziert worden, auch die Degradierung seines Polizeichefs falsch gewesen. Ende April traf er sich mit der afroamerikanischen Bürgerrechtslegende Al Sharpton in New York zum Mittagessen, begleitet von etlichen Kameras. Seine homogene Wählerschaft ist ein Problem, das weiß Buttigieg mittlerweile. In North Carolina, einem der Bundesstaaten, die für die nächste Präsidentschaftswahl entscheidend sein dürften, kam er jüngst in einer Umfrage auf Platz zwei aller demokratischen Kandidaten – bei weißen Wählern. Sein Resultat bei People of Color: null Prozent.

Anti-Trump ohne konkretes Programm

Dass dem jüngsten der 23 demokratischen Kandidaten überhaupt Chancen auf das Weiße Haus eingeräumt werden, liegt vor allem an einer außergewöhnlich erfolgreichen Medienkampagne. Buttigieg ist es gelungen, sich als ein Versöhner zu präsentieren. Als ein Mann, der vermeintliche Widersprüche überwindet. Buttigieg ist vom Land und doch Kosmopolit. Er ist jugendlich und doch gesetzt. Elitär und doch anders. Der Mann aus dem Nichts, gleichzeitig aber verspricht sein Steckbrief Verlässlichkeit. "In vieler Hinsicht ist Buttigieg das genaue Gegenteil von Trump", schreibt das Magazin Time. Belesen, besonnen, schwul.

Es sei Zeit für eine "neue Generation amerikanischer Führungskräfte", sagt Buttigieg bei jeder Gelegenheit. Wie aus seinen vage gehaltenen Visionen ein politisches Programm wird, ist allerdings noch nicht zu sehen. Während andere Kandidaten wie Bernie Sanders, Elizabeth Warren oder Andrew Yang im Wochentakt neue Gesetzesvorschläge und Initiativen präsentieren, bleibt Buttigieg offenbar bewusst unscharf. "Im Moment, glaube ich, sollten wir unsere Werte und philosophischen Standpunkte artikulieren, um daraus dann Politik zu entwickeln", sagte Buttigieg in einem Interview mit Vice. "Manchmal wirkt es so, als seien Buttigiegs Werte das Wort 'Werte'", schrieb der Kritiker Nathan J. Robinson im Magazin Current Affairs.

Auf der Website des Kandidaten steht, dass er unter anderem das Wahlsystem, den Obersten Gerichtshof und das Einwanderungssystem reformieren will. Details zu diesen Vorhaben fehlen jedoch. Eine für seine Verhältnisse klare Ansage machte Buttigieg dafür bei einer Town-Hall-Sendung von CNN im April. Wer im Gefängnis sitze, müsse sein Wahlrecht verlieren, sagte er, ohne an dieser Stelle das rassistische Strafjustizsystem der USA zu erwähnen. Auf Twitter kursierte daraufhin ein Video, das die Reaktionen im Publikums einfing. Alle klatschten. Bis auf eine afroamerikanische Frau, die entsetzt um sich schaute.

Nicht noch ein privilegierter weißer Mann

Die kritischen Stimmen sind in den vergangenen Wochen häufiger geworden. Benjamin Studebaker, ein 29-jähriger Politikwissenschaftler und Nachfahre der Autofamilie, veröffentlichte auf seinem Blog einen Artikel mit der Überschrift Lasst euch von einem Studebaker sagen, was mit dem Bürgermeister von South Bend nicht stimmt. Studebaker, der derzeit im englischen Cambridge an seiner Promotion arbeitet, erläutert darin anhand zahlreicher Statistiken, dass sich die Situation ärmerer Einwohner in South Bend in den vergangenen Jahre sogar verschlechtert hat. Jeder Vierte lebt in Armut, 54 Prozent der arbeitenden Bevölkerung "paycheck to paycheck", sprich: ohne jegliche Ersparnisse. Das Bildungsniveau ist niedrig. Laut dem Pew Research Center zählt South Bend zu den Städten mit der höchsten Mordrate. "Er ist nur der nächste Ivy-League-McKinsey-Berater, der Wege sucht, um das Leben reicher Leute ein bisschen besser und es für alle anderen ein bisschen schlechter zu machen", lautet Studebakers Fazit.

Die Einwohner von South Bend sind gespalten. Buttigieg sei aus guten Gründen als Bürgermeister wiedergewählt worden, sagen seine Anhänger. Das liege vor allem daran, dass in den Außenbezirken nicht mehr als zehn Prozent der Berechtigten zur Wahl gehen, kontern seine Kritiker. Die Zeit für einen schwulen, jungen Präsidenten sei reif, schwärmen manche. Nicht noch ein privilegierter weißer Mann, stöhnen andere.

Immerhin, das Stadtzentrum ist heute ordentlicher als früher, da sind sich alle einig. Und wie rassistisch kann ein Bürgermeister schon sein, der einen Boulevard nach Martin Luther King benennt, fragen seine Unterstützer. "Pete spricht gern über die Geschichte des Rassismus in den USA. Aber er versteht nicht, dass das Erbe in seiner Politik weiterlebt", sagt die Lokalpolitikerin Williams-Preston. "Rassismus", sagt sie, sei "oftmals keine Frage der Intention, sondern der Auswirkungen".