Zum Inhalt springen

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Alles fließt

Deutschen Zeitungen geht es schlecht. Die "Frankfurter Rundschau" ist insolvent, die "Financial Times Deutschland" steht offenbar am Abgrund. Dahinter steckt eine Entwicklung, die größer ist als das Internet, meint Sascha Lobo: Nachrichten werden zum Prozess. Der statische, gedruckte Artikel ist dafür nicht mehr zeitgemäß.

"Don't shoot the messenger", heißt das englische Sprichwort, "bestraft nicht den Überbringer schlechter Botschaften." Klar - aber es fällt schwer. Das Printsterben in Deutschland scheint begonnen zu haben, offenbar reicht es von links ("Frankfurter Rundschau") bis in die Mitte ("Financial Times Deutschland") und von oben ("Impulse") bis unten ("Prinz"). Eine lebhafte Diskussion über die Gründe hat begonnen und darüber, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Es geht dabei oft um Geschäftsmodelle, um Papier und natürlich um das Internet. Seltener geht es darum, wie sich Nachrichten selbst verändert haben, egal ob gedruckt oder gepixelt.

Dahinter steht eine Entwicklung, die größer ist als das Netz. Die Geschichte der Technologie ist eine Geschichte der Prozessualisierung: Offenbar strebt die Menschheit danach, die Welt in Fluss zu bringen - und den griechischen Aphorismus "Panta rhei" ("Alles fließt/ist in Bewegung") nicht als Feststellung, sondern als Aufforderung zu begreifen. Ironischerweise haben gedruckte Zeitungen, zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden, die Prozessualisierung entscheidend vorangetrieben - sind sie doch viel schneller, reaktiver und flüssiger als die bis dahin für die schriftliche Information verwendeten Bücher. Die Digitalisierung und die darauf folgende Vernetzung können als Folge des Wunsches nach Verflüssigung betrachtet werden, der Mensch mache sich die Erde zum Prozess. Nachrichten aber sind durch ihre Funktion viel stärker von der Prozessualisierung betroffen als andere Medieninhalte.

Schriftliche Nachrichten kommen auf Papier wie im Netz in Artikelform daher, das entspricht der Konsumgewohnheit. Aber vielleicht ändert sich genau das, weil das Publikum auch hier die Prozessualisierung erwartet. Nachrichten sind das Gefühl, aktuell informiert zu werden. Vielleicht steht nicht das bedruckte Papier, sondern die statische Berichterstattung und der abgeschlossene Nachrichtenartikel ohne jede Prozessualisierung im Zentrum der Krise. Jedenfalls, wenn man aktualitätsgetriebene Nachrichten, die klassische Berichterstattung, unterscheidet von zeitloseren analytischen Hintergrundberichten und Geschichten, von Investigativem. Es deutet viel darauf hin, offline wie online.

Der Nachrichtenprozess duldet keinen Stillstand

Bei den Papiermedien scheinen diejenigen weniger zu leiden, die dem Prozessualisierungsdruck ausweichen, indem sie sich von der bloßen Berichterstattung schrittweise entfernen. Das papierne Magazin "Landlust" gilt als Erfolg, und es hält schon vom Themenkomplex her gehörige Distanz zur klassischen Nachrichtenwelt. Der "Economist", gedruckt wie gepixelt als Vorbild gefeiert, handelt in der Printausgabe das News-Weltgeschehen in ein bis drei Sätzen ab: "Diese Woche in der Politik" . Der Rest sind Analysen, Hintergrundberichte und Meinungsartikel. Texte also, die helfen, den Nachrichtenprozess zu verstehen, statt ihn berichterstatterisch an einer bestimmten Stelle einzufrieren. Die Abbildung der Welt reicht für einen Nachrichtenartikel unabhängig vom Medium nicht mehr aus. Auch im Netz ist die zunehmende Prozessualisierung erkennbar, und damit hat der gewöhnliche, statisch berichterstattende Artikel ausgedient. Viele Artikel auf SPIEGEL ONLINE werden erweitert, ergänzt: Der Nachrichtenprozess duldet keinen Stillstand.

Vor diesem Hintergrund entspricht der abgeschlossene Nachrichtenartikel auch im Netz ungefähr dem, was ein abgefilmtes Theaterstück im Kino ist: die Eins-zu-eins-Übersetzung, die die unerbittlichen Chancen des Mediums unzureichend nutzt. Nicht das Papier selbst ist in der Krise, sondern das klassische Verständnis von berichterstattenden Nachrichten, online wie offline. Das Netz kann nur ein wenig besser darauf reagieren, weil es prozessualer daherkommt. Allerdings noch nicht prozessual genug. Auch redaktionelle Nachrichtenseiten im Netz haben bisher keinen idealen Umgang mit dem Weltpassierstrom gefunden. In nachrichtenintensiven Momenten wird der Liveticker bemüht. Das ist ein Zeichen dafür, dass der abgeschlossene Artikel nicht einmal prozessual ergänzt die geeignete Form ist, um den Nachrichtenstrom abzubilden - und zwar genau dann, wenn Nachrichten eigentlich am wichtigsten sind. Wenn das Gefühl, informiert zu sein, nur noch eine Halbwertzeit von wenigen Minuten oder gar Sekunden hat. Schon am Aufbau des Tickers - er ist konsequent umgekehrt chronologisch sortiert - lässt sich erkennen, dass er anderen Gesetzen folgt und andere Bedürfnisse befriedigt.

Das Ende der Momentaufnahme steht bevor

Der Newsticker ist keine besonders schöne Form der Nachrichtendarstellung, aber diejenige, die dem Wunsch des Publikums nach fortschreitender Prozessualisierung am nächsten kommt. Das Ende der Momentaufnahme steht bevor, und daran kranken diejenigen Medien, die sich auf Momentaufnahmen spezialisiert haben, online wie offline. Wenn Barack Obama selbst twittert, dass er die Wahlen gewonnen hat, lässt das die rein faktische Berichterstattung, dass er die Wahlen gewonnen hat, etwas schmalbrüstig und hinterherhinkend aussehen.

Die scheinbare Zeitungskrise als Nachrichtenkrise, aus der Perspektive der Prozessualisierung zu betrachten - als Ende der statischen, rein faktenorientierten Berichterstattung in Artikelform - führt zugegeben nicht zu vollkommen neuartigen Analysen der Problematik. Es führt aber zu deutlich erweiterten Konsequenzen.

Für die gedruckten Blätter bedeutet das, sich fernzuhalten von den Bereichen, in denen der Prozessualisierungsdruck am stärksten ist: weg von der Momentaufnahme einer Berichterstattung, hin zur Hilfestellung, um den Nachrichtenprozess zu verstehen. Es ist schwierig einzuschätzen, ob das täglich gelingen kann. Das liegt weniger am Papier und mehr daran, dass große Teile der Maschinerie der Tageszeitungen auf die Abbildung von Momentaufnahmen spezialisiert sind.

Noch spannender, weil viel unverstandener, ist jedoch die Frage, was der unbarmherzige Prozessualisierungdruck mit Nachrichten im Netz macht. Vielleicht zieht eine erkennbare Zweiteilung herauf: die berichtende Darstellung von Ereignissen, Nachrichten werden als Strom inszeniert, die klassische Artikelform wird an dieser Stelle durch ihre eingebaute Momentaufnahmigkeit hinfällig. Ergänzt wird der prozessuale Strom durch Erklärungen, Hintergründe, Analysen, Geschichten in laufend ergänzter Artikelform, auf die der Strom immer wieder verweisen kann. Nachrichten von morgen bestehen aus Live-Berichten und einem ständig aktualisierten Archiv der Hintergründe und Zusammenhänge. Dazwischen ist wenig Platz, und das hat nur am Rande mit dem Papier zu tun.

Erschießt nicht den Berichterstatter, es könnte ohnehin sein letzter Job sein.

tl;dr

Vielleicht ist die Zeitungskrise eher als Nachrichtenkrise zu sehen, die offline wie online wirkt: das Ende statischer Berichterstattung.